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Sagt
Amal Nassim, eine Marokkanerin, die in Casablanca wider alle Traditionen lebt.
Reportage über junge Menschen im Aufbruch in der modernsten Metropole des
Landes.Dreißig
Frauen kippen vor Lachen fast von den Samtpolstern. Karimas Witz kam gut: "In
dieser praktischen Kunststoff-Box könnt ihr sogar euren Ehemann einfrieren." Am
Teetisch neben dem gigantischen Turm von Haushaltsgeräten lassen die
Besucherinnen explosionsartiges Gewieher los. Die Stereo-Anlage pumpt arabische
Rhythmen in den Salon, dass der Kristall-Leuchter klirrt. Frauen zwischen 16 und
60 im eleganten Kostüm, mit bodenlanger Djellaba, in Jeans, Stretch-Top reißt es
vom Diwan. Hüften kreisen, verhüllende Überkleider fallen, eine zieht sich die
Träger runter und lässt zum Vergnügen aller mit Vehemenz den Busen beben.
Tupper-Party auf Marokkanisch.
Amal Nassim liebt Tupper-Partys, weil sie
dort Cousinen, Freundinnen, Kolleginnen treffen kann. "Der Salon ist bei uns ein
wichtiger Ort für geselliges Zusammensein." Amals Cousine Karima, die
Tupperware-Gastgeberin, hat gut vorgesorgt. Das Hausmädchen trägt ununterbrochen
delikaten Nachschub rein: Blätterteigtaschen, selbst gemachtes Konfekt,
Obstsäfte, Pfefferminz-Tee.
Amal ist 34 Jahre und Lehrerin an einer
Hotelfachschule: "Obwohl die meisten Frauen hier in Casablanca berufstätig sind,
gibt es außerhalb des Hauses kaum Möglichkeiten, wo wir ungestört zusammen sein
können." Ungestört, das heißt ohne männlichen Blick. Den Blick, der taxiert,
begehrt und verurteilt. Auf der Straße, im Café, im Souk. Im Salon, der
arabischen Version des Wohnzimmers, treffen sich auch jene Frauen, die in der
Öffentlichkeit unsichtbar sind.
Imane zum Beispiel. 38 Jahre, graue
Djellaba, graues, überlanges Kopftuch, ein bildhübsches Gesicht, die von sich
sagt: "Ich führe noch immer ein traditionelles Leben." Imane, die im Laufe der
Frauen-Party das Kopftuch in die Ecke wirft und ihre schulterlange Mähne
schüttelt. Die mit erhitztem Gesicht ruft: "Ein oder zweimal im Jahr lasse ich
mich gehen. So wie heute. Wenn kein Mann dabei ist." Wir verabreden uns für den
nächsten Tag. Vergebens. Ihr Mann behauptet barsch am Telefon, seine Frau sei
"auf Reisen". Er knallt den Hörer auf. Kontakt abgebrochen. Das ist sein gutes
Recht. Denn jede Marokkanerin hat einen gesetzlichen Vormund. Egal, ob mit sechs
oder sechzig Jahren. Den Vater, Bruder oder Ehemann.
Auf dem Land und in
den konservativen Städten stellt kaum jemand diese Verhältnisse in Frage. Aber
in Casablanca lehnen sich immer mehr Frauen gegen den Status als lebenslang
Unmündige auf.
Amal Nassim gehört zu jener widerspenstigen
Frauengeneration, die sich nicht länger in die Zwangsjacke männlicher
Vormundschaft pressen lässt. Amal hat ein Universitätsdiplom der Biologie in der
Tasche, keine Arbeit gefunden, umgeschult in Sachen Gastronomie und Hotelfach.
Und vor allem: Sie ist unverheiratet. "In Marokko ist das außergewöhnlich. Aber
nach europäischen Maßstäben ist es mit meiner Emanzipation nicht weit her. Ich
lebe mit 34 Jahren noch immer bei meinen Eltern." Wohnungsnot? Kein Geld? Nein.
Keine Lust auf Nachbarn, die über die Ledige tuscheln. Scheu, die Eltern zu
brüskieren.
Und dann die unverschämten Fragen der Vermieter. Eine Frau,
die mit Mitte dreißig noch immer nicht verheiratet ist, da stimmt doch was
nicht. Warum bloß will die alleine leben? Da wird hinter vorgehaltener Hand
vermutet, spekuliert, wird gemunkelt. Kam sie gestern nicht reichlich spät nach
Hause? Ein schickes Auto hat sie auch. Habt ihr das neue Kleid gesehen, ziemlich
kurz. Und irgendwann ist es raus: Hure.
Mit solchen Frauen, denen
unmoralisches Verhalten vorgeworfen wird, hat Amal zweimal in der Woche zu tun.
Mit ledigen Müttern. Bei der Selbsthilfe-Organisation Solidarité Féminine suchen
sie Schutz, denn Sex vor der Ehe ist noch immer ein Tabu, ob in einer Oase im
Grand Sud oder im Großstadtmoloch Casablanca. Ledige Mütter haben die Gesetze
der islamischen Gesellschaftsordnung gebrochen und werden in der Regel von ihrer
Familie verstoßen. Die meisten Männer streiten die Vaterschaft problemlos ab,
denn zu einem DNS-Test können sie nicht verpflichtet werden. Ohne nachweisbaren
Kindsvater wird die Frau endgültig der Prostitution bezichtigt, einer Straftat,
die bis zu sechs Monate Gefängnis einbringt. Wen wundert es, dass Marokkos
Waisenhäuser überfüllt sind mit ausgesetzten Kleinkindern.
Unverheiratete Mütter mit ihren Babys finden bei Solidarité Féminine
Hilfe in ihrer scheinbar aussichtslosen Lage. Gründerin der Organisation ist die
inzwischen landesweit bekannte Sozialarbeiterin Aicha Ech-Channa. Mit sturer
Beharrlichkeit trieb sie die notwendigen Projektgelder bei internationalen und
marokkanischen Institutionen ein. Die ledigen Mütter erhalten nicht nur eine
fundierte Rechtsberatung. Vor allem eignen sie sich Fähigkeiten an, mit denen
sie ihr Überleben ohne eigene Familie sichern können. Viele von ihnen sind
ehemalige Hausmädchen, Petites Bonnes, die des Lesens und Schreibens nicht
mächtig sind. "Ich bringe ihnen professionelles Kochen und Servieren bei. Die
Idee kam mir, als ich in Agadir im Club Med gearbeitet habe", erzählt Amal, die
gelernte Gastronomielehrerin. Was die ledigen Mütter in der Projekt-Küche
zubereitet haben, verkaufen sie mit Profit im hauseigenen Restaurant und in den
Imbissbuden beim zentralen Hospital.
Unübersehbar steht "Solidarité
Féminine" an den Kiosken. Fisch und Pommes frites, Suppe, Hühnchen, Tee und
Limonade gehen über die Theke. Die Garküchen sind bei Krankenhausbesuchern, den
Arbeitern des Viertels und der Laufkundschaft beliebt. Zu einem Foto für die
deutschen Reporterinnen ist allerdings kaum eine der Köchinnen bereit. "Weil die
Familie meistens nicht weiß, was passiert ist. Viele sind in ihrer Not von zu
Hause weggelaufen. Ein Foto in einer Zeitung brauchen sie am allerwenigsten",
erklärt Amal das abweisende Verhalten. Das Haus liegt in einem zentralen Viertel
in Casablanca, umgeben von Villen mit blühenden Gärten. "Wir wollen unsere
Arbeit nicht verstecken. Und die Frauen sollen sich in einer ansprechenden
Umgebung wohl fühlen können", so die Sozialarbeiterin Aicha Ech-Channa. Ein paar
Fußminuten vom Frauenzentrum entfernt säumen Spiegel- und Marmorfassaden von
Bürohäusern, Fluggesellschaften und Banken die Boulevards.
"Wir haben
viele neue Banken in Casablanca." Amal lächelt hintergründig. "Mit nichts drin."
Auch die futuristischen Türme des Shopping-Zentrums Twin Center erinnern an
potemkinsche Dörfer. Einige teure Designer-Boutiquen, Pariser Juweliere,
italienische Lederwaren – aber kaum Kunden. Und überall Schilder: "À louer", zu
vermieten.
Amal und ihre Schwester Hannan kaufen lieber in der Medina
(Altstadt) von Casablanca ein: "Da kann man’s wenigstens bezahlen." Die Medina,
eine Art Fossil in der modernisierten Innenstadt, umzingelt und bedrängt von
wildwüchsigen Bauvorhaben. Von Stadtplanung wagt man kaum zu sprechen. Und schön
ist Casablanca, trotz des klangvollen Namens, sicherlich nicht. Um die zentrale
Place des Nations Unies tobt ein enormer Autoverkehr: Legionen von schrottreifen
Taxis, qualmenden Bussen – dazwischen quälen sich Blinde, Verwachsene, Alte, die
die Hand nach einer milden Gabe ausstrecken.
"Madame, Dirham!", ruft der
barfüßige Kleine. Amal schüttelt energisch den Kopf. "Madame, Dirham!!" Sie
weiß, dass die Armen ihre Kinder oft auf die Straße statt in die Schule
schicken. "Bitte!!!" Man sollte das nicht unterstützen. Amal seufzt und zückt
ihre Börse. "Glitzermetropole Casablanca", steht in den Broschüren der
Tourismus-Industrie, "moderne Stadt mit visionärem Charme." Nirgendwo sonst in
Marokko treffen die Gegensätze so hart aufeinander. Landflüchtige in Lumpen und
Jungunternehmer mit Handy. Tupperware für die Tiefkühlkost und öffentliche
Waschstelle in der Medina. Die Bidonvilles ("Barackenstädte") aus Wellblech und
Plastikplanen am Rand der Vorstädte und die weißen Strände entlang der Corniche.
Im Ausgehviertel Ain Diab schieben sich wochenends nach Sonnenuntergang die
Autokolonnen im Schritt-Tempo über die Boulevards. Leuchtreklamen von
Nachtklubs, Dancing-Halls und Restaurants. Wer jung ist, gut aussieht und eine
funktionierende Scheckkarte sein Eigen nennt, ist unterwegs.
Saturday-Night-Fever in Casablanca.
Amal geht selten in Diskotheken. Die
Eltern sehen das nicht gerne, und exorbitant teuer ist es auch. Für diese Nacht
hat sie ihre Freundinnen zusammengetrommelt plus einen Cousin: "Wenigstens ein
Mann muss dabei sein." Über den Klub sind sich alle einig: Villa Fandango, der
momentane In-Place mit Gesichtskontrolle und Latino-Musik. Amal, Bouchra, Amina
waren extra beim Friseur, tolles Make-up, glänzendes Haar, kühle Eleganz mit
schickem Understatement. Eine Flasche Martini für alle, sonst wird der Abend
unbezahlbar, bestellen muss Talal, der Mann. "Ohne Mann bist du gesellschaftlich
ein Nichts", sagt Amal.
Trotzdem: Eine Ehe kommt auch für ihre
Freundinnen nicht in Frage, etwa die 38-jährige Bouchra. Jedenfalls nicht mit
einem Marokkaner. Auch wenn er sich noch so modern gibt, die Selbstständigkeit
ist nach der Heirat futsch. Und eine rebellische Frau kann von ihrem Mann mit
wenigen Worten verstoßen werden. Eine gerichtliche Scheidung existiert bis zum
heutigen Tag nicht. Bouchra spricht vier Sprachen, arbeitet in der
Verkaufsabteilung einer internationalen Firma und möchte das Land lieber heute
als morgen verlassen. Die aparte Schönheit mit Kurzhaarschnitt zieht sich
temperamentvoll die Jacke aus und legt mit nackten Schultern einen Salsa aufs
Parkett. Dort geht es zu wie in jedem fashionablen Night-Club, ob in Paris,
London oder Berlin. Hübsche Frauen feiern ihre Jugend und ihren Körper – mal
gewagt dekolletiert, mal in rasanten Jeans. Gut aussehende Romeos balzen auf
Teufel komm raus, Drink in der einen, Zigarette in der anderen Hand.
Auch Amina, eine Freundin von Amal, ist mit 33 Jahren noch immer ledig.
Ihre Familie lebt in Fès. "Sogar wenn ich in Fès Arbeit bekäme, würde ich nicht
zurückziehen. Ich kann diese ständigen Fragen meiner Verwandtschaft nicht mehr
hören: ,Na, Amina, hast du inzwischen ein Baby?‘" Den Männern traut sie genauso
wenig wie Bouchra. "Das kenne ich schon: ,Mein Augenstern, ich kann ohne dich
nicht leben!‘" Nichts weiter als zuckersüßes Wortgeklingel, sagt Amina, sagt
Bouchra, sagt Amal. Erst geht es ins Bett und danach adios. "Wir sind bis zum
heutigen Tag Jungfrau."
Das Stichwort ist gefallen: Jungfrau. Die
Freundinnen überbieten sich gegenseitig mit haarsträubenden Geschichten. Dass
die Gynäkologen jetzt für umgerechnet 1000 Mark das Hymen reparieren. Dass das
Brautpaar noch immer, sogar in den Städten, nach der Hochzeitsnacht den
Blutfleck vorzeigen muss. Sie erzählen von Slips, die auf einem silbernen
Tablett unter Jubelgeschrei der Nachbarinnen durch die Straße getragen werden.
Genug der Storys, Amal klopft auf den Tisch: "Jetzt wird getanzt, Mädels." Seit
sie nicht mehr in Agadir arbeitet, sondern wieder bei den Eltern lebt, haben
solche Abende Seltenheit. Auch für heute hat sie irgendeine Ausrede erfunden.
"Wir alle führen zwei Leben gleichzeitig. Ein öffentliches und ein privates."
Anderntags lädt uns Amals Mutter zu Patisserie und Tee ein. Eine
gebildete, berufstätige Frau, die ihre Djellabas selber näht, ihrer Tochter aber
keine Kleidervorschriften macht. "Ich hatte in meiner Mutter immer ein positives
Vorbild", sagt Amal. Mama machte der Tochter vor, wie man auch als verheiratete
Frau eine gewisse Unabhängigkeit bewahren kann. Aus dem Arbeitszimmer des Vaters
dringen arabische, gebetsartige Klänge. "Das ist modern und traditionell
zugleich!", ruft er uns begeistert zu und demonstriert an seinem Computer den
Koran per CD-Rom. Stereofon, dreisprachig, vierfarbig.
Semira, eine
Arbeitskollegin der Mutter, kommt auf einen Sprung vorbei. Grüne Djellaba,
langes, streng gebundenes Kopftuch, ungeschminkt. Freundlich erklärt sie uns,
dass eines Tages – inschallah! – alle Muslima ein Kopftuch und eine Djellaba
tragen werden, denn so schreibe es der Islam vor. Den neuen "Aktionsplan zur
Entwicklung und Integration von Frauen" lehnt sie ab. Ihrer Meinung nach sind zu
viele Punkte mit dem Islam nicht vereinbar. Natürlich sei es das gute Recht
eines Moslems, vier Frauen zu heiraten. Selbstverständlich brauche auch eine
erwachsene Frau einen Vormund. Sexualität vor der Ehe? "Ganz ohne Zweifel ist
das Hurerei."
Genau dieser Aktionsplan aber soll die Modernisierung des
marokkanischen Staates vorantreiben. Ausgearbeitet wurde er vom Staatssekretär
des Ressorts "Familie und Kinder". Danach würde das auf dem Koran fußende
Familienrecht durch bürgerlich-rechtliche Grundsätze abgelöst. Verstoßen der
Frau statt Scheidung, Verheiratung vor dem 19. Lebensjahr, Polygamie und
Vormundschaft wären dann eine Sache der Vergangenheit. Der junge König Mohammed
VI. verkündete bereits bei seiner Thronbesteigung im Sommer 99, dass er den
Marokkanerinnen mehr Rechte geben wolle.
Ein Signal der Hoffnung für die
jüngere Generation. Eigentlich alles bestens. Das zeigten auch mehrere
hunderttausend Menschen, die im März 2000 in Rabat auf die Straße gingen, um für
den Fortschritt zu mobilisieren. Aber gleichzeitig marschierten in Casablanca
fast eine Million Islamisten, nach Geschlechtern getrennt, gegen den Aktionsplan
auf. Sie kamen in Bussen aus unterentwickelten ländlichen Gebieten und aus den
Slums der Vorstädte zusammen. Wohlgemerkt nicht im konservativen Fès, nicht im
frommen Meknès, sondern im modernen, "westlichen" Casablanca.
Hier steht
auch die zweitgrößte Moschee der Welt, ein Wunderwerk der Technik, ins Meer
gebaut, mit hydraulischem Dach, tonnenschweren Pforten aus Titan. Kosten: fast
800 Millionen Dollar. Der 1999 verstorbene König Hassan II. ließ die Moschee
zwar durch Pflichtabgaben von seinem Volk finanzieren. Benannt hat er sie
allerdings als Denkmal zu Lebzeiten nach sich selbst.
Der Gebetsvorplatz
der Moschee Hassan II. erinnert in seinen gewaltigen Ausmaßen an den Roten Platz
in Moskau oder den Tian’anmen-Platz in Peking. Gigantische öffentliche Leere,
gebaut für Massenaufmärsche und Machtdemonstration.
Die Bürger von
Casablanca nutzen den Platz auf ihre Weise. An der Kaimauer treffen sich jeden
Spätnachmittag verliebte Paare, Freunde, Studentinnen mit ihren Kommilitonen.
Fast so, als wäre das normal. Und für einen Augenblick hält Casablanca, was der
Name verspricht: In der Abendsonne leuchten entlang der Meeresfront die Häuser
ganz weiß.